Bewerberflut auf Rathausposten

Elbe-Elster-Rundschau, Herzberg 30.10.2006
Bewerberflut auf Rathausposten
Auf eine Zeitreise in die Jahre 1925/26 wurden geschichtsinteressierte Herzberger in der Vorwoche von Professor Dr. Horst Diere mitgenommen. Auf Einladung des Heimatvereins Herzberg gewährte der Experte für Deutsche Geschichte und Methodik im Geschichtsunterricht interessante Einblicke in eine Epoche, die, zwischen zwei Weltkriegen gelegen, sowohl wirtschaftlich als auch politisch äußerst brisant war.


Prof. Dr. Horst Diere weilte gemeinsam mit seiner Frau Ilse in seiner Geburtsstadt. Foto: gü
Geprägt durch erste demokratische Schritte in der Weimarer Republik, tendierte die Meinungsbildung seinerzeit extrem zwischen linken und konservativ rechten Gruppierungen. Ein Sachverhalt, den Diere an Beispielen in der großen Politik und am Tagesgeschehen in Herzberg festmachte. So ging er in seinem in der Gaststätte "Wolfsschlucht" gehaltenen Vortrag unter anderem tiefgründiger auf die Wahl des zweiten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein, der Nachfolger des Sozialdemokraten Friedrich Ebert wurde.
Mit Slogan wie "Wer nicht wählt, ist kein Deutscher!" versuchten konservative Reichsverbände (Deutschnationale) das Wahlvolk damals für sich zu gewinnen. Sprüche, die an den Herzbergern aber offensichtlich vorbeihallten. Denn mit einer Wahlbeteiligung von etwas mehr als 50 Prozent lag man weit unter dem deutschen Schnitt (68 Prozent). Dies besserte sich auch nicht im zweiten Durchgang, der aufgrund fehlender Mehrheiten für alle Kandidaten erforderlich wurde. Nur auf den Dörfern, so Horst Diere, kam man seiner Bürgerpflicht mit 90 Prozent nach. Gleichsam unpolitisch schien das Interesse der Herzberger 1926 beim Volksbegehren zur Fürstenenteignung gewesen zu sein. 16 Millionen Deutsche stimmten dafür, 20 Millionen hätten es zur Umsetzung sein müssen. Die 2500 stimmberechtigten Herzberger schien das nicht zu interessieren. Nur 900 gingen zur Wahlurne, wovon 800 mit Ja stimmten.
Dass die Herzberg in jener Zeit aber nicht ganz politisch uninteressiert waren, belegt ein anderes Beispiel. Abgeworben von Hoyerswerda, verließ der amtierende Bürgermeister Paul Bautz nach neun Jahren Amtszeit 1925 das Herzberger Rathaus. Als "tüchtig, zuvorkommend und liebenswürdig" wurde er von den Einwohnern umschrieben. Doch auch was die geleistete Arbeit betraf, wurde sein Weggang als Verlust empfunden. Um so erstaunlicher scheint es heute, dass 169 (!) Bewerber es sich zutrauten, in diese Fußstapfen zu treten. Den Zuschlag der Stadtverordneten erhielt letztlich Walter Sourell, ein 28-Jähriger, der zuvor das gleiche Amt schon in Prettin ausübte. Er saß von März 1926 bis 1933 im Herzberger Chefsessel war vor dem Zweiten Weltkrieg der letzte demokratisch gewählte Bürgermeister der Stadt (wir berichteten). Bezeichnend für jene Jahre empfand Prof. Diere indes, dass weder in der Stadtverordnetenversammlung noch im Magistrat oder unter den Senatoren eine Frau Platz genommen hatte.
Die Geschehnisse um den ersten deutschen Volkstrauertag am 1. März 1925, der unrühmliche Umgang mit dem Tode des Reichspräsidenten Ebert, aber auch die Schwächen der noch jungen Demokratie und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben gehörten zu weiteren Sachgebieten, denen sich der Geschichtsexperte widmete.

Hintergrund. Der Referent.

1928 in Herzberg geboren, arbeitete Prof. Dr. Horst Diere bis 1950 in seiner Heimatstadt als Lehrer, ehe er seinen weiteren beruflichen Werdegang an der Universität in Halle fortsetzte. Trotzdem sie nicht sein Spezialgebiet war, ließ die Heimatgeschichte den heute 78-Jährigen doch zeitlebens nicht los. Speziell die Epochen der Reformation sowie die Herzberger Geschichte zwischen 1813 und 1945 betitelt er selbst als seine Schwerpunkte. Prof. Dr. Horst Diere lebt heute in Halle und gilt auch als sachverständiger Seekriegs- und Marinehistoriker.

von Sven Gückel


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